75 Jahre Demokratie in Niedersachsen – dies ist auch für Emden ein bedeutsames Jubiläum. Es regt zum Nachdenken darüber an, wie es dazu kam, wie sich die nach 1945 neu erworbene Freiheit entwickelt hat und gestaltet wurde. Das Land Niedersachsen fördert die Auseinandersetzung mit diesem Thema im Rahmen der Projektausschreibung: „Demokratisch gestalten – Eine Initiative für Schulen in Niedersachsen“. Das Ostfriesische Landesmuseum Emden und das Johannes-Althusius-Gymnasium Emden haben gemeinsam einen Projektvorschlag mit dem Titel „Demokratie-Labor Stadt Emden“ zu dieser Ausschreibung erfolgreich eingereicht und eine Förderzusage des Landes für dieses innovative Kooperationsprojekt erhalten.
Beide Projektpartnerinstitutionen bringen zur Vermittlung und aktiven wissenschaftlichen sowie künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema ihre jeweiligen Expertisen ein, um gemeinsam mit Schüler*innen der 11. Schulstufe Geschichte, Gegenwart und Zukunft des zentralen Elements unseres freien Zusammenlebens zu reflektieren, zu diskutieren und zu kommunizieren.
Am 14.10.21 und am 15.10.21 haben in diesem Rahmen zwei Projekttage stattgefunden, an denen Schüler*innen des Johannes-Althusius-Gymnasiums mit ihren Lehrer*innen und Expert*innen des Ostfriesischen Landesmuseums an vier Orten im öffentlichen Raum der Stadt Emden ein temporäres Demokratielabor einrichten, um in und mit der Öffentlichkeit des Stadtraumes den von ihnen erarbeiteten Fragen zu stellen.
Ein Ausgangspunkt dazu war die Rede des ersten demokratischen Nachkriegs-Oberbürgermeisters Emdens, Georg Frickenstein, der noch auf der Trümmerstätte des Emder Rathauses am 10. Juni 1945 die Reflexion über das Thema Demokratie mit seinen wichtigen Worten begann: „Die Nationalsozialisten kamen, nach den Spielregeln der Demokratie zur Macht. Das Bürgertum Stellte ihnen die Mehrheit, weil es die Demokratie, das gleiche Recht aller im Staat, nicht anerkennen, weil es in dem Arbeiter nicht den gleichberechtigten Staatsbürger sehen wollte. Das Unheil nahm seinen Lauf.“
Konkret wurde an den zwei Projekttagen im Stadtraum aus dem Hier und Jetzt einer Anzahl mit Geschichte aufgeladenen Orten der Stadt Emden in Konfrontation mit dem Alltag des städtischen Lebens eine interdisziplinäre Auseinandersetzung von Schülerinnen und Schülern mit dem Gestern, Heute und Morgen unserer demokratischen Werte und Einstellungen sowie deren Manifestationen in Lebenswelt, Architektur und den Institutionen der Stadt initiiert werden. Diese Orte sind:
- Der Stadtgarten vor dem alten Rathaus in dem ein Schreibtisch mit der Aufschrift „Judenmöbel“ und „Hollandgut“ auf die derzeitige Sonderausstellung des Landesmuseums über die Beraubung, Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung in der NS-Zeit verweist. Auch sind seit 1945 zwei Statuen preußischer Herrscher, die hier vormals aufgestellt waren, woanders untergebracht. An dieser Stelle stehen die Fragen nach der Gedenkkultur und der Gegenwart von Geschichte im Alltag und im öffentlichen Raum Stadt im Zentrum.
- Der jüdische Friedhof Emden, der heute eine Gedenkstätte für die im nationalsozialistischen Emden vernichtete jüdische Gemeinde ist. Hier steht die Frage der Erinnerungskultur im Kontext des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte im Zentrum der Betrachtung und es gilt, sich den Fragen zu stellen, wie wir heute damit umgehen, nachdem die letzten Zeitzeug*innen leider bald nicht mehr unter uns weilen und die Shoah langsam in der vierten Generation nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Terror aus der Unmittelbarkeit der Zeitgeschichte in die nur mehr über archivalische Quellen und Gedenkorte zu vermittelnde Geschichtlichkeit rückt.
- Das Grabmal von William Big Charger, eines in Emden 1932 verstorbenen Angehörigen der Lakota-Sioux, welcher Teil der Wild-West-Show des Zirkus Sarrasani war. Dies ist eines von zwei in Deutschland erhaltenen so genannten “Indianergräbern”, die auf eine komplexe Geschichte des Verhältnisses zu außereuropäischen Gesellschaften verweist. Hier gilt es nach dem zu fragen, was die Kategorien fremd, anders oder auch eigen und zuhause uns als Bürger*innen einer Demokratie sagen und wie wir mit Differenzen, Vorurteilen, Mythen und dem schlicht Unbekannten in einem egalitären Gemeinwesen umgehen.
- Das Magazin des Stadtarchivs, welches in einem Hochbunker aus dem 2. Weltkrieg untergebracht ist und die Komplexität dessen, was Geschichte ist, physisch in Form von Akten, Zeitungen und Realien beinhaltet. Hier stellen sich Fragen, wie Geschichte bewahrt wird, wer auswählt, was überhaupt als bewahrenswert gilt, wie unterschiedlich die Objekte sind, die eine Diktatur hinterlassen hat und die, die ein demokratisches Gemeinwesen archiviert, etc.
Artefakte aus der Vergangenheit, wie übergroße Prints von historischen Fotos, Originalquellen im Archivmagazin oder historische Monumente am jüdischen Friedhof ermöglichten einen analytischen Zugang zur Geschichte über ihre Überreste und Hinterlassenschaften. Mit den erfahrungsüberschreitenden Techniken künstlerischer Ausdrucksweisen soll dieser Zugang performant kombiniert werden, um ein neues interdisziplinäres Medium der Erinnerung entstehen zu lassen, welches die Perspektive der Teilnehmer*innen auf Augenhöhe mit ihrer Lebenswirklichkeit wiederzugeben imstande ist. Performances, Lesungen, Videos, Fotografien, Texte oder Radiobeiträge, um nur einige Möglichkeiten zu nennen, werden von den Schüler*innen als Produkte ihrer Auseinandersetzung mit den Fragen produziert werden, die die Geschichte und die Gegenwart ihnen ganz direkt stellt.
Die Stadt als offener Erlebnisraum und Labor der nächsten Generation wurde so zur performanten Bühne des Denkens, Fragens, Sprechens und Reflektierens über Demokratie.
Dokumentiert werden die Ergebnisse in diesem „Demokratie Weblog“, das auch nach Ende des Projektes aktiv bleiben soll und weitere Generationen von Schüler*innen und Erwachsenen als Denkraum und Ort der Auseinandersetzung mit Fragen der Demokratie zur Verfügung stehen wird.